Chronik IV
Hatte ich dir schon erzählt, dass ich letztes Wochenende bei Endo Sensei auf einem Lehrgang in Heidenheim gewesen bin… ich fand das sehr interessant. Er betont sehr stark das „weiche Training“. Etliche Aspekte davon kamen mir vertraut vor, da ich dies auch bei Watanabe Sensei erlebt habe. Einer meiner Schüler machte mich auf Shimamoto aufmerksam, ebenfalls ein 8. Dan. Auch er hat dieses sehr weiche Aufnehmende und war trotzdem präzise und „scharf“. Es erscheint wie ein Paradoxon: in einem Kampf – so das Alltagsverständnis – muss man einfach stark, hart und gegebenenfalls brutal sein. Diese Lehrer aber zeigen einem, dass man mit dem Gegenteil VIEL weiter kommt. Dabei spielt, soweit ich das sehe, die innere Einstellung und Haltung die größte Rolle. Wie genau dann die Technik ausgeführt wird, da gibt es unterschiedliche Vorlieben und individuelle Erklärungen.
Da ich mich über Jahre mit Robotik und unter anderem auch mit mobilen Robotern und sogenannten Humanoiden (menschenähnlichen) Robotern beschäftigt habe, kenne ich ein wenig Biomechanik. Nach meinem Eindruck ist das intuitive Verstehen dieser Biomechanik des menschlichen Körpers und seiner Bewegungsmöglichkeiten einer der Hauptschlüssel, um zu verstehen, warum so etwas wie Aikido überhaupt funktioniert und insbesondere eben diese sogenannte weiche Form inklusive des sogenannten Ki-Aikido von Watanbe und anderen. Man könnte meinen, dass dies eine „Entzauberung“ des Mysteriums von KI ist, so wie schon in vielen Fällen in den vergangenen Jahrhunderten naturwissenschaftliche Erklärungen die Religionen, Volksglauben etc. ersetzt haben. Diese (naturwissenschaftlichen Erklärungen) haben große Vorteile: Sie kommen mit weniger Voraussetzungen aus. Zum Beispiel Gravitation ist eine viel einfachere Erklärung für das beobachtbare Phänomen, dass alles, was keine Unterstützung erhält, so lange nach unten fällt, bis es diese „Unterstützung“ bekommt, als jede andere. Dasselbe trifft zu für die Erklärung des Sonnenaufgangs (!), dass die Erde rund ist und sich dreht, als dass die Sonne sich um die Erde dreht. Dasselbe trifft zu für elektromagnetische Wellen wie Licht und Wärme. Aber inzwischen gibt es auch ein enormes und präzises Wissen in den Gehirnwissenschaften, wie unsere Sinnesorgane die Welt nur wahrnehmen können (nicht objektiv, vollständig und korrekt sondern subjektiv, unvollständig, plausibel), wie unsere Motorik funktioniert. Und dies alleine reicht schon aus, eine Vielzahl der Effekte im Aikido zu erklären und eben auch zu unterrichten. Dazu muss man keinen Rückgriff auf japanische Mythologie nehmen oder allgemeine asiatische Vorstellungen. Zumindest für uns Europäer ist das viel leichter. Ob das nun das Gesamtphänomen Aikido zutreffend erklärt, das sei dahin gestellt. Aber auch Watanabe sensei und andere japanische Lehrer zeigen ganz banale Dinge, die meines Erachtens naturwissenschaftlich fundiert sind und von dort eine Bestätigung erhalten.
Was sich der naturwissenschaftlichen Erklärung entzieht, ist, was ich als innere Haltung und Einstellung bezeichne. Dies geht darüber hinaus. Also wie komme ich dazu, einem anderen Menschen, der mir ans Leder will, liebevoll und mit Mitgefühl zu begegnen? Warum nicht „Auge um Auge, Zahn um Zahn“? – und wie komme ich dahin, Aggression mit eigener Aggression, Härte mit Härte zu beantworten? –in diesem Bereich machen dann die Metaphern und „mystischen“ Beschreibungen „Sinn“. Man muss sie natürlich aus dem anderen Kulturkreis (Asien/Japan) in den unsrigen übersetzen. Sonst bleibt man im Wolkigen, Exotischen. Mystik heißt nicht schwammig oder unklar. Für mich heißt Mystik größtmögliche Klarheit. Da aber unsere menschliche Sprache (jede!) immer interpretationsfähig ist (ein lieb gemeintes Wort wird als Beleidigung verstanden), entzieht sich ein Teil dieser Klarheit der sprachlichen Beschreibung und kann nur direkt erlebt werden. Deshalb ist dieses Meister(in)-Schüler(in)verhältnis gerechtfertigt, die Übertragung von Herz zu Herz, ohne Worte, ohne sprachliche Erklärung. Man „sieht“ sofort die Wahrheit, die Essenz.
Ich habe Mathematik studiert und dabei erfahren dürfen, dass die wahre Mathematik Bilder und Gefühle sind. Die schriftlichen Darstellungen dienen der professionellen Kommunikation, aber das Verstehen von mathematischen Zusammenhängen ist ein Stück weit unabhängig davon. Die wirklich guten Mathematiker – und das kann man in den inzwischen doch zahlreichen Biografien von solchen nachlesen – gehen intuitiv vor, sie haben Vorstellungen von mehrdimensionalen Räumen, von Funktionen, von Zahlen, die sich der präzisen Beschreibung durch Sprache vollständig entziehen. Und trotzdem ist diese Vorstellung klar, alles andere als Heititeiti irgendwie. Es ist ein sehr präzises Gefühl, so wie Chili auch einen (individuellen) präzisen Geschmack hat oder frisch gemähtes Gras einen präzisen Geruch hat. Wollte man die aber präzise sprachlich beschreiben, so scheitert dies. Gute Schriftsteller schaffen es, mit einer Formulierung die Präzision des individuellen Gefühls nicht aus zu schließen, sondern es an zu stoßen, den eigenen Zugang zur eigenen Erfahrung zu ermöglichen.
So stelle ich mir also auch Aikido-Unterricht vor: Zugang zu den eigenen Ressourcen zu schaffen und diese zu erweitern, reich zu machen. Am Ende realisiert jeder sein eigenes Aikido. Jeder kann erkennen, dass es Aikido ist, aber man kann eventuell nicht sagen, warum. Das ist es. Das ganze Üben läuft darauf hinaus, frei zu werden. Die Kata, die Techniken (waza) sind Blaupausen, Hinweisschilder, kondensierte Erfahrung, Schemata, aber mit Leben füllen muss ich sie. Kein anderer kann sie mit demselben Leben füllen. Jeder füllt sie mit der eigenen Erfahrung, der eigenen Interpretation, den eigenen Möglichkeiten, dem eigenen Körper. Es geht nicht darum, alle zu kleinen Osenseis zu machen, sondern zu eigenen Osenseis.
Triffst Du Buddha, so töte ihn! Du bist nämlich Buddha. Wer Dir als BUDDHA entgegen tritt, ist der falsche Buddha. wer Dir weismachen will, dass Du so werden musst, wie der, ist der falsche Lehrer. Immer, nicht nur im Aikido sondern auch überall sonst.
